Basler Zeitung, Donnerstag, 12. März 1992

Mit der Praxis im Koffer zum Patienten ans Bett

Wer mit hohem Fieber oder Schmerzen im Bett liegt, hat oft nur einen Wunsch: Käme doch der Arzt schnell selbst ans Krankenbett. Statt dessen müssen heute an vielen Orten der Schweiz die meisten Patienten den Weg in die Praxis unter die eigenen Füsse nehmen. Besser geht es diesbezüglich den Patienten der Region, denn viele Basler Ärzte machen wieder Hausbesuche.

In Zürich ist er eine Ausnahme: Martin Kraska, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, kommt auf Wunsch jederzeit zu den Patienten nach Hause. Er verzichtet darauf, eine Arztpraxis mit teuren Apparaturen und eine Sprechstundenhilfe zu unterhalten und bietet in ersten Linie Hausbesuche an. "Ich beschränke mich auf die nötigste und kostengünstigste Form der Ausrüstung und kann dadurch viel mehr Zeit beim Patienten verbringen", argumentiert Kraska. Auf diese Weise besucht er 5 - 6 Patienten pro Tag. Damit kommt er zwar auf ein geringeres Monatsgehalt als sein Kollege, der täglich enorm viel Patienten behandeln muss, um die hohe Zinsbelastung der Apparaturen und Praxismiete zu bezahlen. Dafür bleibt Kraska mehr Zeit, um den Kontakt zum Patienten herzustellen und auch psychomatische Symptome zu erkennen.

Zusammenarbeit mit Spezialisten

"Ein EKG machen oder Blut nehmen kann ich auch zuhause", so Kraska. Ein rund um die Uhr besetztes Sekretariat nimmt Anrufe entgegen und leitet sie direkt an ihn weiter. Blutproben schickt er in Laborunternehmen. Müssen Röntgenbilder gemacht werden, meldet er den Patienten in einem Röntgeninstitut an. Die Resultate erhält er jeweils schon einige Stunden später per Fax oder telefonisch. Hätte auch Basel-Stadt und die Region einen Kraska nötig? "Kaum", sagt Klaus Bally, Informationsbeauftragter der Ärztegesellschaft des Kantons Basel. "Hier ist die Bereitschaft direkt zu den Patienten nach Hause zu kommen erfahrungsgemäss sehr gross", meint er. Erfahrungen von Schweizer Ärzten dagegen belegen, dass nur etwa 1 - 4% der Tätigkeit für Hausbesuche aufgewendet werden. Diese Besuche werden dann gemacht, wenn eine Notlage besteht. Dass die Einschätzung über die Dringlichkeit einer Situation am Telefon nicht ganz einfach ist, hat auch schon die Schweizerische Patientenorganisation, die Kranke unterstützt und informiert, zu hören bekommen. Sie weiss auch in der Region Basel von enttäuschten Menschen, die sich vergeblich auf die Suche nach einem Arzt für Hausbesuche gemacht hatten. Vor allem ältere Leute mit Gehbeschwerden oder Mütter mit mehreren kleinen Kindern, die nur mit Mühe von zu Hause weggehen können, lassen einen akuten Krankheitsschub vielleicht erst mal über sicher ergehen und bleiben zu Hause. Man will ja den vielbeschäftigen Arzt nicht stören, kann sich eventuell am Telefon schlecht ausdrücken und schwer auf die Dringlichkeit hinweisen.

 

Telefonnotruf 261 25 25

"I ha halt nid wele schtürme", meint zum Beispiel ein älterer Mann auf die Frage, weshalb er nicht sofort den Arzt geholt habe, als es ihm so schlecht ging und er kaum mehr Luft bekam. Sie habe gar ein Wochenende mit starken Unterleibsschmerzen und hohem Fieber ausharren müssen, bis sie Anfang Woche schliesslich einen Arzt fand, der sie zu Hause besuchte, behauptet eine Mutter aus dem Fricktal gegenüber der BaZ. "Dies wäre bei uns in Basel nicht passiert", tönt der Tenor der Ärzteschaft. "Über die Notfallnummer hätte in diesen Fällen Hilfe angefordert werden können." In der Tat: Über den Notfalldienst der medizinischen Gesellschaft kann mit der Nummer 261 25 25 bei Notfällen ärztliche Hilfe angefordert werden. Im Jahre 1991 gingen dort insgesamt 45'033 Anrufe ein, davon wurden 15'320 an Ärzte weitergeleitet. Von diesen Anrufern wird ein Teil zu Hause besucht, andere werden am Telefon ärztlich beraten, weiterverwiesen oder in die Praxis bestellt. "Diese Zahlen belegen, dass viele Patienten vertröstet und hingehalten werden, bis sie sich selbst in die Praxis schleppen können", wendet der Zürcher Hausarzt Kraska ein. Und er regt an, dass "das Bedürfnis nach ärztlichen Hausbesuchen einmal unabhängig von den involvierten Ärzten und deren Standespolitik wissenschaftlich untersucht wird." So sei es beispielsweise in Amerika üblich, dass Patientenorganisationen vergleichende Studien mit sämtlichen Angaben über die regionale Ärzteschaft herausgäben.

 

"Gemeinschaftspraxen fördern"

Die Vorteile von Hausbesuchen bringen nicht nur für den Patienten Positives und liegen auf der Hand: Der Arzt kann sich mit den Angehörigen über den Krankheitsverlauf unterhalten, sieht die heimische Umgebung und kann so die Diagnose umfassender stellen. Für den Kranken entfallen mühsame Anfahrtszeiten in die Praxis und Aufenthalte im Wartezimmer. Falls durch ärztliche Hausbesuche eine Spitaleinlieferung vermieden werden kann, fördert die vertraute Umgebung die Genesung. Gerade ältere Menschen haben oft beträchtliche Mühe, ja sogar panische Angst, von zu Hause weggerissen zu werden. Kraska fragt sich auch, ob es wirklich nötig ist, dass ein Arzt of täglich bis zu 60 Patienten behandeln muss. "Aufgrund von Investitionen bei der Praxisgründung von einer halben bis einer Million Franken summieren sich die Abzahlungen an die Bank und weitere Fixkosten wie Miete, Lohn einer Assistentin und Weiteres auf 150'000 bis 200'000 Franken jährlich. Der Patient degradiert zum Zinsfaktor, und für Hausbesuche bleibt keine Zeit", kritisiert Kraska. Wären vielleicht vermehrt Gemeinschaftspraxen die Lösung, damit für die Ärzte Kapazitäten frei würden, um Hausbesuche zu machen und sich für den Kontakt in der Praxis mehr Zeit zu lassen? "Sicher eine gute Art der vernünftigen Auslastung. In Basel teilen sich rund ein Drittel der gut 500 praktizierenden Ärzte eine Praxis", sagt Bally, der ebenfalls mit einem Kollege eine Gemeinschaftspraxis führt. (Franziska Furrer-Laur)

 

Wieviel kostet ein Hausbesuch?

ff. Zu behaupten, die Beschränkung der Praxisausübung eines Arztes auf Hausbesuche sei in der Region Basel eine Marktlücke oder stelle gar einen willkommenen Beitrag zur Kostendämpfung dar, ist irreführend. Zur Sparmassnahme wird der ärztliche Hausbesuch nur dann, wenn mit dieser Leistung ein Spitalaufenthalt vermieden wird.

Während ein Tag im Spital auf 700 bis 1'200 Franken zu stehen kommt, kostet eine spitalexterne Pflege mit Arztbesuchen, Krankenpflege und Hilfen nur einen Bruchteil davon, sofern nicht medizinische Betreuung rund um die Uhr geleistet werden muss. In der Region Basel ist die Honorierungstaxe bei Hausbesuchen für die Ärzteschaft wesentlich weniger attraktiv als im Kanton Zürich. So bezahlt Baselland 54 Franken für einen Hausbesuch und 25.25 Franken für die Konsultation in der Sprechstunde. Baselstadt honoriert den Hausbesuch mit 55 Franken während der Kanton Aargau und Solothurn gar nur 37.50 bzw. 36 Franken bezahlen. Als Verhandlungsergebnis zwischen dem Kantonalverband der Krankenkassen und der Zürcher Ärzteschaft wird in Zürich der Hausbesuch mit 80 Franken honoriert. So könnte ein Arzt in unserer Region kaum von 5 bis 6 Hausbesuchen pro Tag leben.