Medical Tribune, Freitag, 17.November 1995 (von Ursula Eichenberger, Zürich)

Der 24-Stunden-Arzt mit mobilem Ein-Mann-Spital

"Ärztliche Hausbesuche und Betreuung rund um die Uhr" verkündet die Visitenkarte von Dr. Martin Kraska, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, Zürich. 24 Stunden abrufbar, setzt Dr. Kraska das in die Tat um, was eigentlich nur logisch ist: Der Gesunde geht zum Kranken und nicht umgekehrt.

Der Zürcher Arzt übt insofern eine ungewöhnliche Tätigkeit aus, als er ausschliesslich Hausbesuche macht und keine eigentliche Praxis mit Arztgehilfin, Wartezimmer und Behandlungsraum führt. 24 Stunden abrufbar, besucht Dr. Kraska Patienten mit seinem "Koffer-Spital" zu Hause. Gerade für wenig mobile ältere Menschen wie auch für Sterbenskranke oder kinderreiche Familien stellt sein Dienst eine grosse Unterstützung und Hilfe dar.
Im Dezember 1990 startete Dr. Kraska mit Eröffnungsinseraten, woraufhin um 9 Uhr morgens bereits das Telefon klingelte und seitdem nicht mehr aufhörte. Vom ersten zum zweiten Jahr hat sich die Patientenzahl verdoppelt, vom zweiten zum dritten Jahr hat sich die Anzahlt des zweiten Jahres nochmals verdoppelt und seitdem blieb die Patientenzahl etwa konstant. Obgleich über Telefonzentrale oder Piepser stets erreichbar. Hat Dr. Kraska bisher immer genügend Zeit und Energie zur Betreuung und Versorgung aller anfragenden Patienten gehabt.
Die Idee für seinen speziellen Einsatz kam Dr. Kraska während der Zeit, als er als Arzt beim Städtischen Notfalldienst tätig war. Damals wurde ihm klar, dass unterschiedliche Interessen von Arzt und Patient aufeinanderstiessen, wobei das Interesse auf seiten der Ärzte standespolitisch definiert, dasjenige der Patienten jedoch krankheitsspezifisch gegeben ist. Trotz der Handels- und Gewerbefreiheit gilt die Bestimmung, dass ein Notfallarzt einen Patienten einmal sieht, versorgt und ihn dann nicht weiter betreut. Entspricht diese Praxis aber den Bedürfnissen der Patienten?
Auf die Frage, weshalb er ein Einzelfall ist und nicht mehr Ärzte auf diese sinnvolle Idee gekommen sind oder mit ihm zusammenarbeiten, meint Dr. Kraska: "Die Ärzte schwatzen von morgens bis abends zwar viel, das wenigste davon wird aber wirklich realisiert. Mit den Funktionären der Ärztegesellschaft, die gegen jede innovative Entwicklung sind, kann man einfach nicht zusammenarbeiten; da verliert man zur Zeit, Energie und Geld."

Jedem Arzt sein Königreich?

Dr. Kraskas Arbeitsweise, als Arzt den Patienten aufzusuchen und nicht umgekehrt, entsprach dem allgemeinen Usus bis zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die meisten Ärzte hatten keine eigene, feste Praxis, sondern zogen mit ihren Koffern von Patient zu Patient. Der Wechsel begann, als sich infolge der wachsenden Technologisierung und immer günstiger werdenden Apparate jeder Arzt sein eigenes kleines medizinisches Königreich leisten konnte. Nachdem zu früheren Zeiten neben Galilei nur der Kaiser und die Universität im Besitz eines Mikroskops waren, wurden dieses und andere Instrumente rasch zu Massenprodukten, die bald für jedermann erschwinglich waren.
In dem seither bestehenden System beobachtete Dr. Kraska so viele Leerläufe, dass er sich sagte: "Mit den heutigen elektronische Möglichkeiten von Telefon, Fax, Labor und vielem mehr kann ich mir auch ein eigenes kleines Königreich aufbauen. Ich arbeite mit der modernsten Methodik, nutze extern die Infrastruktur öffentlicher Spitäler - wie beispielsweise den Röntgendienst - und bediene mich der Kommunikationsmöglichkeiten von Natel, Telefonzentrale, Piepser und Fax. Zusammengefasst führe ich en Spital ohne Spital." Der Bestand seines mobilen "Koffer-Spitals" reicht von den gebräuchlichen Instrumenten und Medikamenten eines Allgemeinpraktikers über die Gerätschaft zur Blutentnahme bis zum EKG.

Patienten vom ersten bis zum letzten Atemzug

Auf die Frage, wie ungestört und erholsam eine Nacht für ihn sei, meint Dr. Kraska, es habe sich freundlicherweise so ergeben, dass er nachts oft gar nicht gerufen werde. Zudem habe sich sein Arbeitsrhythmus so eingependelt, dass er bei seinen nächtlichen Touren gleich mehrere Patienten hintereinander versorgt. Das Spektrum von Anfragen erstreckt sich auf Patienten vom ersten bis zum letzten Atemzug. Besonders häufig wird Dr. Kraska von Müttern mit einem kranken Kind gerufen, die durch seinen Hausdienst nicht mit den anderen gesunden Geschwistern zum Arzt pilgern müssen. Zahlreich vertreten sind aber auch betagte, nicht mehr mobile Patienten oder Schwerkranke, die ihren Lebensabend zu Hause verbringen wollen. So ist denn die Reaktion auf Patientenseite durchwegs positiv. Dr. Kraska bestätigt: "Es entspricht ja auch dem Bedürfnis der Patienten, ein Gesunder geht doch zum Kranken und nicht umgekehrt! Was ist das für eine verkehrte Welt!?" Täglich versorgt der 24-Stunden-Hausarzt etwa 8 Personen. Es gibt aber auch "Spitzentage" mit mehr als 20 Hilfesuchenden, etwa über die Weihnachtstage oder an Silvester. Der Tarif für die Besuche ist von der Ärztegesellschaft festgesetzt, welche 3 Kategorien unterscheidet: Ein Nachtbesuch entspricht 240 Tax-Punkten, ein Tag-Express-Besuch 170 und ein normaler Tag-Besuch 100 Tax-Punkten. Der tatsächliche Zeitaufwand, Medikamente und das zur Behandlung nötige Material werden gemäss jeweils festgelegter Tax-Punkte zusätzlich verrechnet.

Weniger Arzt sein, sondern vernünftig

Dr. Kraskas Dienste stellen in der Schweiz ein Unikum dar. Er selbst zumindest kennt keine Berufsgenossen, die ihr Wissen, Können und ihre Energie auf ähnliche Weise einsetzen: "Mancher, der nicht Arzt ist, käme auf diese sinnvolle Idee; ich bin in diesem Sinn eben auch weniger Arzt, sonder vernünftig", meint Dr. Kraska, der weiter fortfährt, dass er von dieser Berufsweise zwar leben, aber niemals Millionär werden könne. Doch für den Unterhalt seines Flügels und für regelmässige Klavierstunden am Konservatorium reicht das Geld allemal. Weniger reicht da die Zeit: In den paar Sekunden, die ein Fax mit Patienteninformationen ans Kantonsspital zum Durchlaufen benötigt, huscht der Arzt an den Flügel und spielt - notgedrungen etwas schneller - ein Bach-Präludium durch. Beim letzten Ton ist der Fax durchgerattert und der Meister nicht ganz aus der Übung gekommen.