Tages Anzeiger, Donnerstag, 11.Juni 1992 (von Paula Lanfranconi)

Wenn die Arztpraxis im Koffer Platz hat

Ein Zürcher Arzt hat sich auf Hausbesuche spezialisiert

Schon von weitem winkt die 77jährige Frau D. aus dem Fenster. Die Kaffeemaschine läuft bereits, wie wir eintreten. Damals, vor gut einem Monat, als der Allgemeinpraktiker Martin Kraska Frau D. zum erstenmal sah, stand ihr der Sinn allerdings nicht nach Kaffee und Kuchen. Ihre Kniearthrose machte jeden Schritt zur Qual, und die unabwendbar scheinende Operation kam der alten Frau wie ein Albtraum vor. "Ich stellte fest", sagt Kraska, "dass Frau D. nur mit Tabletten behandelt wurde und der aktivierende Aspekt vernachlässigt war." Dank Physiotherapie und regelmässigen Hausbesuchen des Arztes ist Frau D. wieder mobiler geworden. Auch ihr Lebensmut ist zurückgekehrt. Er sei halt es bitzeli wie ein Sohn, ihr neuer Hausarzt. "Und das Schöne ist, dass er uns alte Menschen nicht einfach abwimmelt wie etliche andere Ärzte".
Nein, ein ganz gewöhnlicher Arzt ist der 1950 geborene Martin Kraska nicht. Schon seine Ausbildungsorte sind ziemlich unkonventionell: Ein Universitätsspital im japanischen Osaka gehört ebenso dazu wie das Kantonsspital Altdorf, die Lukas-Klinik Arlesheim oder der Einsatz als Expeditionsarzt im Himalaja und in Saudiarabien.

Ein "normales" Angebot

Das Inserat, in dem Kraska Ende 1990 auf seine Tätigkeit als Allgemeinpraktiker hingewiesen hatte, eckte bei der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich an. Auslöser war offenbar die Tatsache, dass Kraska ärztliche Hausbesuche anbot, ohne eine Praxisadresse anzugeben. Im Mitteilungsblatt der Ärztegesellschaft wurde ihm auch vorgeworfen, er führe den FMH-Titel zu Unrecht, weil er ja nicht Mitglied der Ärztegesellschaft sei. Das Bezirksgericht Zürich hat mittlerweile zugunsten von Kraska entschieden (TA vom 23. Mai), doch die Ärztegesellschaft hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Mit Blick auf Euroopa bezeichnet Kraska die Sache als "Streit um des Kaisers Bart, denn nach Euro-Recht dürfen solche Facharzttitel ohnehin nicht von privaten Vereinen, sondern nur vom Staat verliehen werden".
Inzwischen hat Martin Kraska eine Wohnung an der Freigutstrasse in der Enge gemietet. Seine "Praxis" befindet sich aber nach wie vor im Koffer beziehungsweise in seinem Auto; der Bestand reicht von den üblichen Ärzteutensilien über Blutentnahmegeräte bis zur EKG-Apparatur.
"Ich biete, miniaturisiert, alles an, was ein "normaler" Allgemeinpraktiker auch anbietet", sagt Kraska. Blut- und andere Proben lässt er in einem externen Labor analysieren, die Resultate seien notfalls "so rasch da wie im Spital". Eine rund um die Uhr besetzte externe Telefonzentrale stellt den Kontakt zu dem Anrufenden sicher.

Lieber für die Patienten als für Amortisationsraten arbeiten

Wie kam Kraska auf seine ungewöhnliche Idee? "Ich habe nicht Medizin studiert, um in neun Stunden 30 bis 70 Patienten durchzuschleusen und die Amortisation für all die teuren Apparate aufzubringen. Da verwende ich meine Zeit lieber für die Patienten", meint er. Die Investitionen für eine Arztpraxis beliefen sich in Zürich heute auf eine halbe bis eine Million Franken, hinzu kämen noch Mieten und Personalkosten von rund 100 000 Franken.
Die Grundlage für sein Konzept basiert auf eigenen Erfahrungen als Notfallarzt und auf den Zahlen der ärztlichen Notfalltelefonzentrale des Bezirks Zürich. "Dort gehen pro Jahr rund 150 000 Anrufe ein. Aber nur etwa 26 000 werden mit Hausbesuchen beantwortet. Zieht man je rund 25 000 sogenannte Vollmond- und nichtmedizinische Anrufe ab, dann liegt ein Potential von etwa 75 000 Anrufen brach." Darunter sei erfahrungsgemäss eine grosse Zahl unzufriedener Anrufer, die von der Notfallzentrale "vertröstet" würden - hie und da mit fatalen Folgen. Die Einsatzdoktrin der Zentrale verbiete es einem Arzt auch, einen Patienten mehr als einmal zu besuchen, was eher den Standesinteressen diene als den Patienten.
Niklaus Brand, Präsident der Notfalldienst-Kommission, bezeichnet Kraskas Interpretation als "sehr subjektiv". Es sei "sicher nicht so, dass sämtliche 75 000 Anrufenden einen Notfallbesuch brauchen". Und die relativ teure Notfallorganisation sei nun einmal kein Hausbesuchsdienst. Ausserdem habe eine Umfrage unter de Zürcher Ärzten mi8t Hausarztpraxis vor kurzem ergeben, dass "praktisch jeder Hausbesuche macht, nur muss er selektiver vorgehen".

Junge Familien und viele betagte Patienten

Trotzdem: Dass Ärztinnen und Ärzte, die ins Haus kommen, eher rar sind, ist unbestritten. "Meine Idee hat sich, nach schwierigen Anfängen, bewährt", sagt Kraska. Zu seinen Patientinnen und Patienten gehören inzwischen Familien mit mehreren Kindern, für die ein Praxisbesuch bald einmal mühsam wird. Kraska betreut aber auch etliche Schwerkranke, die zu Hause sterben möchten. Recht zahlreich vertreten sind auch hochbetagte, nicht mehr mobile Menschen, die dank regelmässiger ärztlicher Hausbesuche und enger Zusammenarbeit mit der Spitex auch bei akuten Erkrankungen zu Hause weiter gepflegt werden können. Durch den engen Kontakt mit seinen Patienten hat Kraska auch ein Auge für soziale Nöte entwickelt. Dort, wo es nötig ist, macht er auf Altersbeihilfen oder andere Entlastungsmöglichkeiten aufmerksam.
Die Krankenkassen bewerten Hausbesuche offenbar positiv. So wurde der Zürcher Ärztetarif für Hausbesuche kürzlich immerhin auf rund 80 Franken verdoppelt; Hausbesuche sollen unnötige Hospitalisierungen vermeiden helfen. Kraska nennt ein Beispiel aus seinem Alltag: Herr K., unheilbar krank, konnte die Monate bis zum Tod in seiner vertrauten Umgebung betreut werden. Kosten insgesamt rund 25 000 Franken. Hätte die Pflege im Akutspital erfolgen müssen, wären es mindestens 150 000 Franken gewesen. Möglich ist dies allerdings nur, wenn der Arzt Angehörige und Spitex auf seiner Seite weiss.

Teilzeitgelegenheit für Ärztinnen mit Kindern?

"Millionär wird man bei dieser Tätigkeit nicht", sagt Kraska. "Aber man kann davon leben." Weitermachen will er auf jeden Fall. Längerfristig wäre er jedoch mit der ständigen 24-Stunden-Präsenz überlastet. "Ich suche Kolleginnen und Kollegen, um den Dienst zu teilen. Arbeit gibt es genug." Kraska könnte sich vorstellen, dass eine solche Teilzeittätigkeit nicht zuletzt für Ärztinnen mit Kindern interessant sein könnte. Die Dankbarkeit besonders der älteren Patientinnen und Patienten wäre ihnen jedenfalls gewiss. Wie sagte doch Frau D. zum Abschied: "Ich laan nöd zue, dass em Dokter Kraska öppis passiert!"

Hausbesuchspraxis: "Ein verstecktes Problem"

Ob die Zürcherinnen und Zürcher mit der Hausbesuchspraxis ihrer Ärzte zufrieden sind, lässt sich nicht in Zahlen festhalten.
"Es ist ein verstecktes Problem", sagt Margrit Bossard von der Schweizerischen Patienten-Organisation. "viele Patientinnen und Patienten werden schon von der Praxishilfe <abgeblockt>, ihr Wunsch nach einem Hausbesuch dringt oft gar nicht bis zum Arzt vor." Gerade ältere Menschen seien dann rasch eingeschüchtert und getrauten sich nicht, zu insistieren. Erst wenn es zu Folgeproblemen kommen, wendeten sie sich an die Patienten-Organisation. "Es wäre höchste Zeit, dass in den Praxen ein Umdenken stattfindet", sagt Bossard. Es gehe schliesslich um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient - immer noch "die beste Voraussetzung für eine Heilung". Hausbesuche hätten auch eine nicht zu unterschätzende psychische Wirkung.
Martin Kraskas Hausbesuche beurteilt die Patientenvertreterin als "Wahrnehmen einer echten Marktlücke". Er leiste "einen Dienst an den Konsumentinnen und Konsumenten, und er hat etwas in Bewegung gesetzt". (lan.)